Dr. Antje Neuner-Warthorst
Obwohl das Kinderfest seit vielen Generationen als „Nationalfeiertag“ der Stadt gilt und „ein unbändiger Stolz darin [liegt], wenn die Giengener auf neugierige Fragen mit ‚So war es schon immer!‘ antworten und sich bei vorsichtigen Aenderungsvorschlägen darauf versteifen: ‚Das ist bei uns uralte Tradition und kein Machwerk. Da wird nichts geändert!'“, gab es über viele Jahrhunderte zu diesem Thema kaum etwas zu lesen.
Eine erste ergiebige Quelle ist die von Stadtarchivar Alexander Usler erarbeitete Broschüre aus dem Jahre 1994, die zwar in Umfang und Aufmachung sehr bescheiden wirkt, jedoch tatsächlich viele relevante kirchliche und städtische Archivalien zum Giengener Kinderfest aufführt und eine sorgsame Würdigung der historischen Entwicklung darstellt. Desweiteren kommen ein paar wenige Bemerkungen in der vom „Oberlehrer a. D. K. K. Meck“ 1927 im Selbstverlag veröffentlichten Stadtchronik in Frage und kleine Abschnitte in einigen vom „Arbeitskreis Stadtgeschichte“ herausgegebenen Abhandlungen. Wer über genügend Geduld, Energie und Zeit verfügt, für den ist vielleicht auch noch die Durchsicht der historischen Ausgaben des „Brenzthal-Bote[n]“ im Stadtarchiv eine Option. Doch das ist dann auch schon alles.
Ein an lokaler Geschichte interessierter Mensch könnte über solch eine spärliche Quellenlage nun wahlweise schimpfen oder verzweifeln, vom kulturhistorischen Standpunkt aus ist eine deutlich positivere Sicht angebracht. Denn so lange Bräuche fest im Alltag verankert sind, so lange meint sich niemand über deren Zukunft Gedanken machen oder sich um ihren Erhalt kümmern zu müssen. Erst wenn Teile in Vergessenheit geraten oder Traditionen ganz zu verschwinden drohen, dann treten Heimatforscher und Kulturhistoriker auf den Plan. Negativ könnte man es vielleicht auch so formulieren: Historiker und Volkskundler sind zuweilen Sachwalter von aussterbendem Kulturgut und Kuratoren in den Museen vielleicht sogar dessen Totengräber – aber auch dieser Job muß ordentlich gemacht werden.
Insofern wäre das Fehlen jeglicher Museumspräsenz und von Schriftquellen zum Giengener Kinderfest als Zeichen seiner Vitalität zu interpretieren – und die Zeiten, in denen Schriften dazu erscheinen, als Momente des Umbruchs beziehungsweise der aufkeimenden Angst vor dem Verfall der Sitten und Gebräuche. Ein Zusammenhang, den man übrigens ruhig auch für die vorliegende Publikation konstatieren darf.
Um die Bedeutung des Giengener Kinderfestes besser einschätzen zu können, müssen vermutlich einige allgemein-historische Grundlagen ausgebreitet werden, weshalb – um den Textteil dieses Buches nicht übermäßig auszudehnen – eine Wiederholung bereits publizierter Quellen weitgehend vermieden wurde. Das Bemühen, die Historie des Giengener Kinderfestes hier knapp, nicht allzu trocken, aber dennoch wissenschaftlich korrekt nachzuerzählen, gestaltete sich trotz der genannten Vorarbeiten deutlich schwieriger als zunächst angenommen. Grundsätzlich muß man festhalten, daß die Anfänge von gewachsenen Traditionen zumeist im Dunkeln liegen. Der Erwähnung in offiziellen Schriftstücken gehen Gewohnheiten voraus, die den Beteiligten oftmals Langezeit uninteressant erschienen und Chronisten werden erst bei Normabweichungen oder besonderen Vorkommnissen – meist negativer Art – aktiv. Ähnlich kompliziert gestaltet sich der Versuch, Jahrhunderte alte Entwicklungen auf einen kurzen, stringenten Nenner bringen zu wollen. Vor allem wegen fehlender oder lückenhafter Quellen und einer uneinheitlichen Begrifflichkeit, kann man da schnell ins Schleudern geraten. Auch im Fall des Giengener Kinderfestes waren anfänglich die unterschiedlichen Schriftstücke aus kirchlichem und städtischem Besitz nicht systematisch angelegt worden, sondern spiegeln den Umgang mit kleineren und größeren Konflikten und dabei notwendig gewordene Amtshandlungen – erwähnen das Kinderfest also, wenn überhaupt, nur zufällig oder am Rande; desweiteren gibt es gewaltige Lücken, Fehlstellen, parallel geführte oder sich überschneidende Quellen und eine verwirrende, uneinheitliche Terminologie.
Eine derart chaotische Ausgangslage ist bei lokalgeschichtlichen Untersuchungen oder Analysen von historischem Brauchtum durchaus nichts Ungewöhnliches. Einen Ausweg bietet dann oft der Vergleich mit ähnlich gelagerten Phänomenen. Doch da andere Kinderfest-Städte mit den selben Problemen zu kämpfen haben – also mit fehlende Dokumenten und einer unklaren Ausgangslage – war auch das nicht wirklich zielführend.
So half im vorliegenden Fall des Giengener Kinderfestes tatsächlich nur die konsequente Trennung folgender drei Aspekte: der kulturhistorische Anlaß in den sogenannten Schulvisitationen, die Festivität mit ihren wechselnden Bezeichnungen und Terminen sowie die Beschreibung des im Lauf der Jahrhunderte variierten Festablaufs. Nur so lösten sich die in den (und durch die) historischen Quellen verworrenen Stränge und gewann die komplexe Entstehungsgeschichte des Giengener Kinderfestes eine nachvollziehbare Kontur, die mitten hinein führt in Renaissance, Reformation, Gegenreformation,
Aufklärung, Säkularisierung, Restauration, Kaiserreich, Weimarer Republik und zwei Weltkriege. Tatsächlich finden all diese großen historischen Strömungen einen Wiederhall im Giengener Kinderfest und binden die kleine schwäbische Reichsstadt fest ein in eine gesamteuropäische Entwicklung. Weltgeschichte wird eben nicht nur in den großen Machtzentren, an Herrscherhöfen oder auf Schlachtfeldern geschrieben, sondern auch und gerade abseits der Metropolen, in Familien, im Alltäglichen und in den Festbräuchen.
Die historische Wurzel des Giengener Kinderfestes bildet die sogenannte Schulvisitation. Mit diesem Begriff, der immer wieder in den kirchlichen und städtischen Quellen auftaucht, bezeichnete man bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein die Kontrollbesuche offizieller Schulaufsichtspersonen zu bestimmten Zeiten im Jahr, an denen Prüfungen abgenommen wurden.
Seit wann Schulvisitationen in Giengen stattfanden, ist nicht belegt – aber spätestens für die Zeit um 1500 anzunehmen, eventuell sogar schon für das 14. Jahrhundert denkbar.
Die erste Notiz für solch eine Veranstaltung datiert von 1560. Am 16. Februar sollten der Pfarrer und der Prediger die lateinische und die deutsche Schule visitieren. Nur wenige Jahre später, am 25. Juni 1566, bestimmte der Rat der Stadt, daß „die Schulvisitation durch den Pfarrer, den Prediger und die Verordneten des Rats jeweils an Ostern und an Michaelis [d.i. 29. September] vorzunehmen war.“ Daß sich in diesen beiden Quellen keine Bemerkungen zu einem sich anschließenden Fest finden, hat nichts zu bedeuten, denn es ging erkennbar nur um eine Aufgabenverteilung und Termingestaltung für die Amtsträger.
Bis zum ersten schriftlichen Beleg eines im Rahmen der Visitation durchgeführten Festes – durch gerade einmal drei Wörter – sollten noch einmal beinahe hundert Jahre vergehen: 1659 ist in einer der ältesten für Giengen erhaltenen Kirchpflegrechnung zu lesen, „deß den 11. tag may, die visitation beschehen ist bey den knaben außgespendiret worden, den lateinern 4 kr [d. i. kreuzer], schreiber 2 kr, den kleinen 1 kreuzer sametlich 3 fl.[d. i. Gulden] 3 kr. bey den Mäglen 2 fl. 8 kr. bede schulmeister verehrt 30 kr. für papier außgeben 45 kr. für federn 17 kr. darauf bey h.[errn] johan schapper ein trunck beschehen, mit sammetlichen herrn und bewusten gästen ein trunck gethan und den wert 13 fl. für 14 maß bier und 5 [?] brott so auf den berg geholt worden, bezahlt 33 kr.“
Am 27. April 1677 findet das Kinderfest im Anschluß an die Visitation dann seinen ersten Niederschlag in den städtischen Akten als bestimmt wurde, „die schuelvisitation uf den montag, u. die fürrung uf den Berg uf den folgenden dienstag anzustellen“.
Schon vor fünfzig Jahren wurde in einem Zeitungsbericht über das Giengener Kinderfest, aus der Feder der Lehrer Meck und Ruder bzw. von Karl Hodum, das Auseinanderklaffen von dieser extrem dürftigen Quellenlage und dem gleichzeitig außerordentlich großen Traditionsbewußtsein bemerkt: „Dieser 5. Mai des Jahres 1677 dürfte demnach als der ‚Geburtstag des Kinderfestes‘ angesehen werden. Doch ist man bei näherem Zusehen versucht, gegen diese Schlußfolgerung einige Einwände zu erheben. Schon der Originaltext des dickleibigen alten Folianten, der oben wörtlich mitgeteilt ist, macht nicht im entferntesten den Eindruck, als habe mit dieser ‚fürrung auf den Berg‘ ein neuer Abschnitt im Leben der Schule (und damit der ganzen Gemeinde) begonnen. Im Gegenteil – nüchterner, geschäftsmäßiger hätte der Wortlaut gar nicht ausfallen können. Es fehlen in ihm eigentlich nur noch die beiden Wörter ‚wie üblich‘, um ganz deutlich zu machen, daß das Schulfest wie in früheren Jahren gefeiert werden solle.“
Ganz ohne Beleg haben die Autoren 1967 diese Diskrepanz als Indiz für eine besonders lange Tradition des Festes in Giengen gewertet. Auch wenn es sich damals nur um eine Vermutung aus dem hohlen Bauch gehandelt hat, lagen die Herren mit ihrer Einschätzung ganz richtig, denn mittlerweile gibt es neben den zitierten Schriftquellen tatsächlich einen unverrückbaren Hinweis auf eine deutlich frühere Schulfest-Tradition in Giengen. In der zwischen 1498 und 1503 entstandenen „ältesten württembergischen Landesbeschreibung“ des Ladislaus Suntheim von Ravensburg (um 1440-1513), Hofhistoriograph Maximilians I. (1459-1519), sind bei Giengen die Namen von drei Bergen festgehalten: Bruckersberg, Irpfelberg und Katzen- oder Schulerberg. Der Name des zuletzt genannten Bergs läßt auf eine schon damals feststehende Tradition von Schülerfeiern auf dem heutigen Schießberg schließen – doch wie lange diese zurückgehen mögen, dazu schweigen leider die Quellen.
Maximal denkbar sind zweihundert Jahre, denn am 15. September 1301 war in einer Urkunde „Marquard der Schulmeister von Giengen“ erwähnt worden, was als die „früheste bekannte Nennung eines Schulmeisters, indirekt auch […] die erste Nennung einer Stadt- bzw. Lateinschule in Giengen“ angesehen wird. Am 17. März 1334 folgte die namentliche Erwähnung eines zweiten Schulmeisters, was auf die Kontinuität schulischer Ausbildung in Giengen schließen läßt, außerdem das Entstehen einer festlichen Schulabschlußtradition in den Bereich des Denkbaren hebt. Dieses frühe Datum geht übrigens konform mit der ersten Erwähnung Giengens als eine von zwölf schwäbischen Reichsstädten und weiteren historisch relevanten Aktivitäten.
So unbehaglich diese Annahme für einen Historiker sein muß, doch ein „Schulerfest“ scheint in Giengen derart etabliert und selbstverständlich gewesen zu sein, daß es den Ratsschreibern und anderen Chronisten zu Beginn und über viele Jahre und Jahrzehnte schlicht keine einzige Zeile wert gewesen war.
Betrachtet man diese wenigen Fakten auf einem breiteren historischen Hintergrund, so ist die Situation für eine verhältnismäßig kleine und ländlich geprägte Stadt wie Giengen aus mehreren Gründen höchst bemerkenswert: Zunächst natürlich die Existenz gleich mehrerer Schulen, zum Zweiten der Unterricht von Jungen und Mädchen sowie das nur geringe materielle Gefälle in deren Ausstattung, dann die finanzielle Förderung aller Schüler und schließlich die regelmäßige Ausrichtung eines mit Ausgaben verbundenen Schülerfestes.
Zu dem herausragenden Engagement in Sachen Schule heißt es in der Giengener Stadtchronik von 1927: „Ein beliebtes und auch aus der Nachbarschaft sehr besuchtes Schülerfest wird in der Regel am Pfingstdienstag mit Gottesdienst und Lustbarkeiten im Freien gefeiert.“ Und über den finanziellen Stellenwert der Ausbildung des Nachwuchses steht dort: „Sämtliche Knabenschulen mit vier Lehrerwohnungen befinden sich in einem sehr ansehnlichen, 1842 und 1843 neu und massiv aufgeführten Gebäude, dem schönsten in der Stadt, an der Stelle des ehemaligen Obern Tors. […] Das Mädchenschulhaus neben der Pfarrkirche ist 1810 und 1811 erbaut worden; in demselben beabsichtigt man auch eine Kleinkinderschule einzurichten.“
Zum besseren Verständnis dieser enormen Leistung dürften einige grundsätzliche Bemerkungen zur Geschichte der gesellschaftlichen Situation von Kindern und zur Entwicklung der Schule von Nöten sein. Die Lebensvoraussetzungen für Kinder waren im ausgehenden Mittelalter – also zur wahrscheinlichen Entstehungszeit des Kinderfestes – wie auch in den sich anschließenden Jahrhunderten völlig andere als heutzutage. Weder gab es eine allgemeine Schulpflicht, noch waren Schulen selbstverständlich. Es herrschten enorme und nicht überbrückbare Standesunterschiede sowohl zwischen Klerus, Adel, Bürgertum, Bauern und Leibeigenen, als auch zwischen Erwachsenen und Kindern, sowie bei diesen zwischen Jungen und Mädchen. Jeder dieser Bevölkerungsteile lebte in einer anderen Realität, hatte eigene Pflichten, Regeln, Vorschriften, Rechte und Privilegien oder – wie der überwiegende Großteil der Bevölkerung – auch nichts von den Letztgenannten.
„Zur Lebenssituation von Kindern im 15. Jahrhundert gehörte die selbstverständliche Mithilfe in häuslicher und gewerblicher Wirtschaft. Sie wurden frühzeitig in die anfallenden Arbeitsprozesse miteinbezogen, gingen in Haushalt, Landwirtschaft, Handel und Gewerbe zur Hand, ohne daß dies in besonderem Maße in den vorhandenen Quellen hervorgehoben worden wäre.“ Natürlich, denn Kinder waren über Jahrtausende hinweg zwar willkommener Nachwuchs, weil den Bestand der Familie garantierend, dennoch sind sie bestenfalls als lästige Kostgänger angesehen, wenn nicht gar als billige Arbeitskräfte ausgebeutet worden; erst im ausgehenden 19. Jahrhundert wurden sie als eigenständige Individuen „entdeckt“ und seit Mitte des 20. Jahrhunderts auch im juristischen Sinne als besonders schützenswerte Gruppe deklariert.
Vor der Etablierung dieser sozialen Errungenschaften hatten Kinder keine lange Schonfrist. Bereits sehr früh waren sie mit der gesamten Härte des Lebens beziehungsweise des eigenen Überlebens konfrontiert. In Straßburg etwa war 1464 eine Bettelordnung erlassen worden, die es Kindern, die schon imstande waren, ihr Brot zu verdienen, ausdrücklich verbot, Almosen zu erbetteln. Dabei lag die als zumutbar geltende Altersgrenze damals bei acht Jahren, wie eine Nürnberger Stadtverordnung aus ungefähr derselben Zeit angibt. Von dort stammt eine weitere Verordnung, die für die kräftemäßig anspruchsvolle Mithilfe beim Bau der Stadtbefestigung eine Altersgrenze von zwölf Jahren festschreibt, und von etwas später datiert eine Vorschrift, die besagt, daß Kinder „älter als sieben Jahre sein sollten, bevor sie zu der körperlich sehr anstrengende Erntearbeit herangezogen werden durften.“
Nimmt man alle verfügbaren Aussagen aus diesem Zeitraum, kann man festhalten, daß Kinder „wie selbstverständlich im Haus mitlebten“; auch in der Gesellschaft hatten sie bis zum Übergang in das Erwachsenendasein „kaum einen eigenen Raum.“ Insgesamt scheint es, „wenn man die Einstellung zu Kindern genauer untersucht […] als befanden sie sich in einer höchst ambivalenten Position zwischen Erwünschtsein und Ablehnung.“
Dabei ist zu bedenken, daß diese Analyse die Situation von Kindern in den Städten beschreibt – nur dort liegen überhaupt Schriftquellen vor, die derartige Rückschlüsse zulassen. Daneben gab es im Spätmittelalter „eine nicht zu unterschätzende Anzahl von Kindern, die völlig auf sich alleingestellt ihren Lebensunterhalt bestreiten mußten und sich ‚irgendwie‘ durchschlugen. Es waren Kinder der sozialen Randgruppen, genauer der Bettler, fahrenden Leute, ‚Gauner, Dirnen und Gelichter‘ sowie aller anderen am Rande des Existenzminimums lebenden Menschen. Deren Zahl ist nicht ermittelbar; nach Schätzungen […] dürfte sie etwa ein Viertel der Bürger einer reichen Stadt ausgemacht haben.“
Das Leben und die Position von Kindern außerhalb derartiger, sozial gefestigter Strukturen, also etwa auf dem Land und in unterprivilegierten Schichten, kann man sich daher vermutlich gar nicht prekär genug ausmalen.
Abschließend muß noch darauf hingewiesen werden, daß, wenn in den zeitgenössischen Quellen generell von „Kindern“ die Rede ist, der Inhalt häufig nur auf einen Teil der damaligen Kinder zutrifft, nämlich auf die Jungen. Ein geschlechtsspezifischer Blick auf die Quellen brächte sicher noch einmal ganz andere Ergebnisse zum Vorschein. So spielte bei Mädchen etwa über viele Jahrhunderte hinweg weniger das Alter eine Rolle, als vielmehr ihre körperliche Reife.
Auch der freie Zugang zu Bildung war über viele Jahrhunderte keine Selbstverständlichkeit, ursprünglich sogar nur eine reine Angelegenheit des Hofes und der Kirche. Seit der karolingischen Renaissance unter Karl dem Großen (768-814) waren die Schriften der Antike, von Philosophen und Kirchenvätern in Klosterbibliotheken gesammelt sowie in ihren Schreibstuben in mühsamer Handarbeit – im Auftrag geistlicher und weltlicher Herrscher – von schreibkundigen Mönchen vervielfältigt worden. Diese klösterlichen Scriptorien bilden in Kombination mit den Domschulen und Universitäten die Keimzelle schulischer Bildung.
Mit der im 14. Jahrhundert von Italien ausgehenden Renaissance kam das Ideal einer humanistischen Bildung nach Europa und löste etwas später eine regelrechte Bildungsbewegung aus. Dabei ging es nicht mehr nur um die Wiederentdeckung und Vergegenwärtigung antiker Literatur und Philosophie, sondern vielmehr um die Erziehung tugendhafter Menschen. Dafür verbanden viele der damaligen pädagogischen Texte klassische mit hellenistischen sowie christlichen Auffassungen.
Frömmigkeit, Humanität und zivilisiertes Verhalten waren so zu einem neuen Ideal verschmolzen und die Bildung der Heranwachsenden durch theoretische Schriften – wie etwa die Abhandlung „Über die Notwendigkeit einer frühzeitigen allgemeinen Charakter- und Geistesbildung der Kinder“ des Erasmus von Rotterdam (1466-1536) – im 15. und 16. Jahrhundert zu einer erstrebenswerten gesellschaftlichen Aufgabe herangereift.
Deshalb entwickelte sich während des 14. Jahrhunderts, vor allem aber im 15. Jahrhundert, „ein starkes Bedürfnis nach Bildungsanstalten. Das Schul- und Unterrichtswesen wurde ausgebaut und weiterentwickelt; die Anzahl der Schüler und Studenten stieg sprunghaft an. Sie rekrutierten sich nicht mehr länger vorwiegend aus der Oberschicht. Das Bürgertum, also Handwerker und Kaufleute, bekundete sein Interesse an einer Öffnung der Schulen und Lehranstalten für seine Söhne.“
Durch zahlreiche Schulordnungen, -verträge und Gesetze kann man heute ein gutes Bild von den damaligen Unterrichtsverhältnissen sowie von der Stellung der Schüler und Lehrer gewinnen. Und dabei fällt auf: „Die Kinder der sozialen Randgruppen und der Landbevölkerung, aber auch die meisten Mädchen aus anderen Schichten blieben von dieser Entwicklung vorerst ausgeschlossen.“
Nicht so in Giengen! Das ist erklärungsbedürftig.
Zu Beginn des 16. Jahrhunderts führten die reformatorischen Umwälzungen „zunächst zu einem rapiden Verfall der Bildungseinrichtungen, sodass Luther vor der Gefahr warnte, der Mensch werde sich von Gottes Wort entfernen, und damit dies verhindert werde, müsse nach neuen Möglichkeiten gesucht werden, ihn für Gottes Wort zu öffnen. In seinem Sendschreiben ‚An die Bürgermeister und Ratsherren aller Städte in deutschen Landen‘ aus dem Jahr 1524 verlangt er deshalb von diesen, ‚dass sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen‘. Luther sieht in weltlicher Hinsicht den Nutzen dieser Schulen darin, dass dann ‚die Männer wohl regieren können Land und Leute, die Frauen wohl ziehen können Haus, Kinder und Gesinde‘. In religiöser Hinsicht stellt er vor allem die Bedeutung der dort zu lehrenden Sprachen (Griechisch, Latein, Hebräisch) heraus, denn der christliche Glaube stehe und falle mit gründlichen Kenntnissen in den Sprachen der Bibel – ohne sie könne man weder die Schrift auslegen noch sie gegen Irrlehren verteidigen. Luthers Appell zur Erneuerung des Schul- und auch des Universitätswesens ist vor allem von seinem Wegbegleiter und Freund Philipp Melanchton [1497-1560] in die Tat umgesetzt worden. Melanchton, der später praeceptor Germaniae (‚Lehrer Deutschlands‘) genannt werden wird, hat die Einheit von eruditio und pietas (‚Bildung‘ und ‚Frömmigkeit‘) ebenso wie die Einheit von prudentia und eloquentia (‚Sachwissen‘ und ‚Wortwissen‘) zu bewahren gesucht und den organisatorischen Aufbau des frühneuzeitlichen Bildungswesen im protestantisch-humanistischen Geist herbeigeführt.“
Melanchtons Einfluß auf die damalige Reform des Schul- und Universitätswesens ist enorm und kann gar nicht überbewertet werden. „Er hat nicht nur zahlreiche Schulbücher, Grammatiken, Bibelkommentare und Interpretationen antiker Autoren für unterrichtliche Zwecke verfaßt, sondern über den Entwurf von Schulordnungen und eine intensive Beratertätigkeit entscheidend zur Organisation des protestantischen Bildungswesens beigetragen.“ So trägt die Gründung einer ganzen Reihe von Lateinschulen – etwa 1524 in
Magdeburg und Eisleben sowie 1526 in Nürnberg – seine Handschrift, ebenso wie die von ihm verfaßte Visitatorenordnung mit dem Titel „Unterricht der Visitatoren an die Pfarrherren im Kurfürstentum zu Sachsen“ aus dem Jahre 1528. Die darin „enthaltene Schulordnung ist in vielen protestantischen Städten und Ländern mit geringfügiger Modifikation nachgeahmt worden.“ In dieser Zeit und in diesem geistigen Umfeld entstanden einige der bis heute begangenen Kinderfeste im Südwesten.
Zur Vervollständigung des Bildes von der Situation der Schule im 16. Jahrhundert sei noch darauf hingewiesen, daß „mit Gründung des Jesuitenordens, der im Jahr 1540 durch päpstliches Dekret bestätigt worden war, und dem Konzil von Trient (1545-63) die sogenannte Gegenreformation ein[setzte], die u.a. zur Erneuerung des katholischen Schulwesens führte. Die Paradoxie dieses Vorgangs liegt nicht zuletzt darin, dass die sich nunmehr auch im Bildungswesen fortsetzende konfessionelle Spaltung das gleiche Fundament wie die protestantische Erneuerung des Bildungswesens hat, nämlich den Humanismus.“
Aus der eben geschilderten Epoche gibt es nun einige in Giengen geborene Gelehrte, die als Kinder zunächst von dem Bildungsangebot einer Lateinschule vor Ort profitierten und später in die Welt hinaus wirkten. So der 1445 verstorbene Benediktiner Johannes Keck, der „erste Theologieprofessor der 1440 neu gegründeten Universität in Basel“, ihm folgen der nach 1465 verstorbene Prediger Georg Trudel, der als Professor an der Wiener Universität tätig war, Georg de Giengen, der 1479 als der „erste immatrikulierte Student aus Giengen an der 1477 neu gegründeten Universität Tübingen“ gilt, Christian Wolman, der „1476 zum Rektor der Universität Heidelberg […] avancierte, 1480 zum Rektor der Universität Tübingen“, Jakob Herbrandt (1521-1600), zunächst Student in Wittenberg bei Luther und Melanchton und später Kanzler der Universität Tübingen, sowie Georg Hitzler (1528-1591), Professor an den Universitäten Straßburg und Tübingen, und schließlich „der aus Giengen stammende Rochus Dilher, der 1532 an der Universität Ferrara zum Dr. iur. civ. [promovierte]“.
Ob all diese Männer auch schon an Feierlichkeiten im Anschluß an die Schulvisitation teilgenommen haben? Wer weiß! Es ist zumindest eine hübsche Vorstellung, daß die weit herumgereisten und zu hohen Ehren gelangten Professoren ihre ersten Preise auf dem Schülerberg von Giengen in Form von Brezeln und Schreibpapier errungen haben könnten. Ganz wie die Kinder heute noch.
Und da Bildung noch niemals eine Einbahnstraße war, gab es in jenen Jahren nicht nur junge Männer, die es damals an die neu gegründeten Universitäten zog und die dort eine zum Teil weltweit beachtete Karriere starteten, sondern stets auch eine Rückwirkung der neuen Erkenntnisse und Ideen in die Heimat. Manche von ihnen haben sogar handfeste und bis heute sichtbare Spuren hinterlassen, wie etwa „Michael Dillherr, Professor und Prediger in Nürnberg, sowie Stadtadvokat Dillher, deren Vorfahren aus Giengen stammen“, indem sie für die wiedererrichtete Stadtkirche 1655 den Taufstein mit zinnernem Einsatz stifteten, oder Jakob Honold (1609-1690), der eigentlich Pfarrer war, zugleich aber – um Geld zu sparen -als Architekt beim Wiederaufbau der Stadtkirche wirkte.
Die Frage, was derart allgemein-pädagogische Aspekte, hoch angesehene Philosophen und Theologen nun in einem Text zur Genese des Giengener Kinderfestes verloren haben, ist rasch beantwortet: Ganz einfach, weil sie alle in den historischen Quellen der Stadt ihre sichtbaren Spuren hinterlassen haben. Und weil durch diese Spuren die beachtliche Stellung der städtischen Bildungseinrichtungen zum Vorschein tritt. Und last but not least, weil die bis heute tragenden Elemente des Giengener Kinderfestes – wie etwa die Bedeutung von Stadtkirche und Gottesdienst, der hohe Stellenwert des Singens und die Huldigung durch Rat und Bürgermeister – aus dem Schulalltag dieser reichsstädtischen Blütezeit stammen.
Eine besonders enge Verzahnung von Stadt und Kirche in Giengen ist bis heute nicht allein im Stadtbild weithin sichtbar, durch die beiden direkt aneinander gebauten, sehr unterschiedlichen Türme der Stadtkirche – der ehemals städtische Bläserturm mit der Turmuhr und der kirchliche Glockenturm mit dem viertelstündlichen Geläut -, sondern auch jedes Jahr wieder intensiv erfahrbar in der besonderen Liturgie des Kinderfestes. Und da diese in Giengen besonders eng verbunden ist mit dem aufkeimenden Protestantismus sei hier noch ein kleiner Ausflug in dessen Entwicklung in Giengen gestattet, wobei es weniger um religiöse Glaubensinhalte gehen kann, als vielmehr um die tiefgreifenden gesellschaftlichen und realpolitischen Veränderungen, die der im 16. Jahrhundert im Entstehen begriffene und um sich greifende neue Glauben mit sich brachte. Nicht ohne Grund wurden im 16. und 17. Jahrhundert auf europäischem Boden mehrere erbitterte und langjährige Glaubenskriege ausgefochten – an deren Ende gerade Giengen ganz besonders zu leiden hatte. Gemeint ist die Katastrophe des Stadtbrandes vom September 1634, der zur beinahe kompletten Vernichtung der Stadt, der Bevölkerung und auch des materiellen Erbes geführt hat. Ein Desaster, das um so gewaltiger erscheint, wenn man die vorhergehende positive Entwicklung des Geisteslebens bedenkt.
Wie eine Reihe weltlicher Herrscher und hohe Würdenträger zuvor – erinnert sei hier nur an Kaiser Friedrich I. und König Rudolf I. von Habsburg -, übernachtete vom 29. auf den 30. Oktober 1414 auch der böhmische Reformer Jan Hus (um 1370-1415), Professor für Theologie und Philosophie an der Universität zu Prag, in Giengen. Er war auf dem Weg zum Konstanzer Konzil, wo zwischen 1414 und 1418 das sogenannte „große abendländische Schisma“, die Spaltung der Kirche, beendet werden sollte. Da Hus mit seinen Reformideen in kirchen- wie machtpolitisch extrem unruhigen Zeiten unterwegs und von König Sigismund (1368-1437) verraten worden war, bezahlte er diese Reise mit seinem Leben. Am 28. November 1414, also nicht einmal einen Monat nach seinem Aufenthalt in Giengen, wurde Hus in Konstanz gefangenen genommen und ein halbes Jahr später dort als Ketzer verbrannt. – Tragisch, denn Martin Luther (1483-1546), ein Mann mit ähnlicher Mission, sollte genau 100 Jahre später deutlich mehr Fortune haben.
Auf dem sich dem Konstanzer Konzil anschließenden Konzil von Basel, das von 1431 bis 1449 tagte und sich vor allem dem innerkirchlich umstrittenen Wahlmodus kirchlicher Würdenträger widmete, wurde der Stadt Giengen am 27. Oktober 1436 das Nominationsrecht bei der Besetzung der Pfarrstelle genehmigt, ein Jahr später wurde bestätigt, daß der „Magistrat Giengen das Recht und die Macht [hat], einen Stadtpfarrer nach Wunsch und Willen zu erwählen“.
Ein Jahrzehnt nach Luthers Anschlag von 95 Thesen an der Schloßkirche zu Wittenberg, wurde 1528 in Giengens „Hospitalkirche zum Heiliggeist […] erstmals das Evangelium durch Kaspar Pfeifelmann gepredigt, ‚wogegen der päpstliche Dechant mit Händen und Füßen sich darwider setzte‘.“ Im Jahr darauf hatten vier Giengener Bürger „dem Rat der Stadt eine Bittschrift [überreicht], in der sie um Anstellung eines evangelischen Predigers nachsuch[t]en“, was als erster schriftlicher Niederschlag der Reformation in Giengen angesehen wird. Berufen wurde damals aus dem Ulmischen der spätere Reformer der Stadt Martin Rauber, der bereits 1531, trotz des Wirkens mehrerer katholischer Geistlicher im Ort, „das Herumtragen der Fahnen in der Kreuzwoche und am Himmelfahrtstag, sowie das Herumtragen der Monstranz [abschaffte]. Gleichzeitig ist den Priestern vom Stadtrat befohlen worden, dass sie ihre Mägde abschaffen oder heiraten sollen.“ Es nimmt nicht weiter Wunder, daß eine derart handfeste und pragmatische Weltsicht in Giengen schnell weitere Anhänger fand.
Apropos Pragmatismus der Giengener – sie konnten auch großzügig sein: Am 31. Dezember 1532 hatte sich Melanchton mit einem Schreiben an die Stadt gewandt. Es ging um ein Stipendium für seinen aus Giengen stammenden Studenten Ambrosius Hetzler. Da der Rat dies wohlwollend gewährt hatte, konnte dieser sein Studium fortsetzen und wurde am 13. Juni 1540 „durch Martin Luther an der Universität zu Wittenberg ordiniert.“
Die Akten verraten ebenfalls, wie es mit der Reformation in Giengen weiterging: Im März 1535 „fordert der Prediger Rauber den Rat auf, die Reichung des Abendmahls nach evangelischer Sitte zu genehmigen“, wozu sich der Rat jedoch noch nicht entschließen konnte. Erst nach einigem Hin und Her und der Beratung mit anderen Reichsstädten hat Giengen 1554 den neuen Glauben angenommen. Da sich die Giengener Pfarrer und Prediger aber bereits 1537 der Reformation angeschlossen hatten, gab es in diesen Jahren zahlreiche Konflikte und Differenzen zwischen dem Magistrat und den Kirchenmännern.
Das ist nun im Zusammenhang mit dem Kinderfest insofern von Bedeutung, als die dem Fest zugrunde liegende Schulvisitation eigentlich fest in Händen der Kirche lag, in Giengen aber der Magistrat durch sein verbrieftes Recht auf Bestellung von Predigern und Schulmeistern tatsächlich großen Einfluß auf die Lehre und den Schulalltag hatte, was sich in Beschwerden und wiederholten Einträgen über Entlassungen und Neubestellungen von Lehrern und Predigern niederschlug, etwa wegen „ungebührlichen, ärgerlichen Verhaltens“ – dieser Vorwurf betraf einen Prediger. 1568 wurde bezüglich des deutschen Schulmeisters notiert: ihm „soll mit ‚Ernst‘ gesagt werden, dass er von seinem ‚geselligen Leben und Wesen‘ abstehe, sonst werde ihm ein anderer Weg gezeigt.“ Knapp hundert Jahre später sollte „dem Lateinpräzeptor Johann Meyer wegen seinem großen Unfleiß mit der Jugend, wie auch seinem ‚ganz wunderlichen Humor‘ eine Rüge erteilt werden.“
Die Auflösung von Verträgen lag manchmal aber auch an etwas seltsamen Arbeitsbedingung, wie etwa 1555, als dem lateinischen Schulmeister vorgegeben wurde, in absehbarer Zeit zu heiraten, was dieser aber nicht befolgte und lieber fortzog. Dieselbe Vorgabe wurde 1757 bei der Einstellung eines neuen
„Mägdleinschulmeisters“ noch einmal versucht: „Zur Bedingung wird […] gemacht, daß er sich später mit einer Giengener Bürgerstochter verheiratet. Er heiratet, aber sehr zum Verdruß des Rats, doch eine Auswärtige.“ Tja, so kann’s gehen, wenn man einen derartigen „Kuhhandel“ versucht, aber die Konditionen vorher nicht sorgfältig genug formuliert hat.
In anderen Protokollnotizen wiederum ist das alltägliche, existentielle Abhängigkeitsverhältnis der Lehrer vom Magistrat dokumentiert, etwa wenn es 1557 in den Akten heißt: „Dem Schulmeister wird anbefohlen,
auf der Schule zu hausen und den Kantor zu unterhalten [gemeint ist: finanziell auszuhalten].“ Wie hoch die Entlohnung des Schulmeisters war, auch dazu findet sich eine Notiz: Der neue lateinische Schulmeister Georg Bollinger von Lauingen „erhält jährlich 70 Gulden Dienstgeld und zusammen mit dem Kantor acht Malter Korn“.
Aber auch die Prediger und Pfarrer waren in Giengen an die Anweisungen des Magistrats gebunden. Der hatte nicht nur über deren sittsamen Lebenswandel zu wachen und gegebenenfalls diesen zu sanktionieren, sondern auch über ganz zentrale Glaubensangelegenheiten zu befinden, wie über den Ablauf von Prozessionen und ähnliche liturgische Handlungen, das Abhalten von Meßfeiern, die Einhaltung kirchlicher Feiertage, das Aufbewahren der Sakramente, die Veräußerung der Ornate, das Einlagern von Meßgeschirr und schließlich auch die Entfernung von Heiligenfiguren aus den Kirchen. Der 31. Juli 1548 ist ein gutes Beispiel für die Macht und den Einfluß des Rates auf die im Ort ausgeübte Religion: „Gemäss kaiserlichem Befehl muss das [lateinische] Messelesen in den Kirchen wieder eingeführt werden. Dies erfolgt in Giengen unter dem Widerstand des größten Teils der Bevölkerung.“ Und für denselben Tag heißt weiter: „Dem Prediger wird befohlen, das Interim [d.i. ein von Kaiser Karl V. eingesetztes Reichsgesetz, das die Rückkehr zum katholischen Ritus beinhaltete] von der Kanzel herab zu verkünden. Der Prediger weigert sich, dies zu tun und wird daher entlassen.“
Auch wenn die Ratsprotokolle nicht immer derart dramatische Entscheidungen zum Inhalt hatten, so spiegeln einige Notizen verschiedener Stadtschreiber ein im Giengener Rathaus doch besonders ausgeprägtes Selbstbewußtsein gegenüber der Kirche. So etwa 1534, als man scheinbar zufrieden befand „Dem Prediger das Maul gestopft“, oder 1535: „Pfarrer und Prediger sollen auf der Kanzel wider die Obrigkeit nicht so ‚frech‘ sein“. Am 21. Februar 1556, als der Rat nach einem „langen, hartnäckigen und unschönen […], dem Ansehen der Kirche sicher abträglich[en] Streit, geführt mit Verleumdungen und Beleidigungen“ endlich mehrheitlich beschlossen hatte, die Nürnberger Religionsordnung anzunehmen, reimte ein sichtlich erleichterter Schreiber: „Hab Gott lieb und den Wein – und laß Pfaffen, Pfaffen sein.“
Bevor im nachfolgenden Kapitel der Festablauf geschildert wird, soll noch ein kurzer Blick auf den damaligen Schulalltag geworfen werden, damit die Ausnahmestellung Giengens und seines Kinderfestes um so deutlicher hervortreten kann.
Eine Schulpflicht gab es nicht. Der Schulbesuch war freiwillig, aber normalerweise nicht kostenfrei.
„Schulgeld und Naturalabgaben an die Lehrer und das Bereitstellen von Kerzen und Holz zur Beleuchtung und Beheizung des Schulzimmers sind Thema in fast allen überlieferten Schulordnungen des 15. Jahrhunderts. Darüber hinaus mußten die recht kostspieligen Buchstabenabschriften erworben oder gegen einen Betrag ausgeliehen werden. ‚Unproblematisch‘ war der Schulbesuch demnach nur für Kinder der Familien, die die erforderlichen Abgaben aufbringen konnten.“
Zur Grundausstattung eines jeden Schülers gehörte ein Wachstäfelchen, in das er mit einem spitzen Griffel aus Holz oder Knochen Buchstaben, Wörter und ganze Verse einritzen konnte. Dieser Griffel war am anderen Ende abgeflacht, so daß man die eingeritzten Buchstaben jederzeit durch Glätten der Wachsschicht entfernen konnte. Papier war damals noch viel zu wertvoll, als daß man es für die Kritzeleien und Übungen von Kindern verschwendet hätte. Um so bemerkenswerter, daß in der Giengener Kirchpflegrechnung von 1659 zum Kinderfest notiert worden ist: „30 kr. für papier außgeben“. Auch wenn es damals angestrebt wurde, selbst armen Kindern den Schulbesuch zu ermöglichen, so ging doch nur ein kleiner Teil aller Kinder und Jugendlichen überhaupt zur Schule. „Dem weitaus größeren Teil sollte das Privileg einer geistigen Ausbildung noch lange vorenthalten bleiben.“
Für Mädchen kam in jenen Zeiten eine Ausbildung nur selten in Betracht, und wenn, dann blieb die Ausbildungsqualität weit hinter der von Jungen zurück, da sie ihre Erziehung oftmals in Frauenklöstern erhielten, wo sich „die Lerninhalte auf die Vermittlung von Grundkenntnissen im Lesen, das Auswendiglernen von einigen Psalmen sowie den Gesang [beschränkten]. Daneben entstanden im Laufe des 15. Jahrhunderts in einigen wenigen Städten öffentliche und private Töchterschulen, in denen
‚Lehrfrauen‘ den elementaren Unterricht erteilten.“
In den größeren Städten gab es städtische Lateinschulen, die sich in ihrem Unterricht an den Dom-, Kloster- und Stiftsschulen orientierten. Zwar stand auch die Vermittlung elementarer Kenntnisse im Lesen, Schreiben und Singen sowie religiöser Unterricht auf dem Lehrplan, doch das Erlernen der lateinischen Sprache und ihrer Grammatik hatte dort Vorrang. Da diese Inhalte zum Betreiben von Handel und Gewerbe wenig nützlich waren „entstanden in den in den größeren Handelsstädten auch Schreib- und Rechenschulen, in denen vorrangig Lese- und Schreibkenntnisse in der deutschen Sprache sowie Grundlagen des Rechnens vermittelt wurden.“ Diese wurden vor allem von den Kaufmanns- und Handwerkersöhnen besucht. „In Städten, in den Schreib- und Rechenschulen nicht offiziell eingerichtet wurden, entstanden private Schulen – auch ‚Bei-, Klipp- oder Winkelschulen‘ genannt – in denen gewerbsmäßige Schreiber, ehemalige Geistliche oder auch Studenten einen kleinen Schülerkreis unterrichteten.“
Bei diesen allgemeinen Feststellungen spätmittelalterlicher Schulpraxis überraschen die Gegebenheiten in Giengen. 1538 sollte die seit 1535 nachzuweisende deutsche Schule auf Wunsch des Stadtrates mit der Lateinschule zusammen in einem Haus untergebracht werden, wofür ein eigenes Schulgebäude errichtet werden soll. 1560 beschloß der Rat, daß das sehr baufällig gewordene Schulhaus (heute Kirchplatz 8) repariert werde solle. Nach dem Stadtbrand fand der Unterricht zunächst in der Klingelmühle statt, 1642 wurde von der Kirchpflege „zur Abhaltung des Schulunterrichts ein Bürgerhaus [ge]kauft“, und 1653 mit dem Neubau eines Schulhauses begonnen. 1650 wurde beschlossen, daß „die Knaben, die Latein lernen,[…] künftig doppeltes Schulgeld zu reichen [haben]“ – das waren pro Vierteljahr 4 Kreuzer; an der deutschen Schule mußten zwei Kreuzer bezahlt werden.
Und auch die Mädchen wurden in Giengen damals schon selbstverständlich unterrichtet.
Eine neue Schulordnung war 1569 für die lateinische und für die deutsche Schule erlassen worden. Aus einem 1731 formulierten Ratserlaß kann man ungefähre Rückschlüsse auf die Vorschriften jener Zeit ziehen. Dieses Dokument „regelt, wie sich die Schuldiener, Präzeptor und Provisor in der Kirche, beim Kirchengesang und im Schuldienst zu verhalten haben. U.a. wird vorgeschrieben: An Sonntagen soll morgens und mittags der Singstuhl mindestens mit 40 Knaben, bei den Wochenpredigten, Betstunden und Vesperlektionen mindestens mit 16 Knaben besetzt sein (1/3 von der Lateinschule, 2/3 von der deutschen Schule), die Schüler haben 1/2 Stunde vor Beginn des Gottesdienstes zu erscheinen und dann mit dem Präzeptor und dem Provisor in Prozession zur Kirche zu ziehen, über den Inhalt der Predigt haben die Schüler am Tag nach der Predigt in der Schule Auskunft zu geben, dem Kirchengesang sollen beide Schuldiener wechselweise vorstehen. Der Schulunterricht dauert von 7 bis 10 Uhr und von 12 bis 15 Uhr (Sommer und Winter). Bei Hochzeiten und Leichenpredigten endet die Schule um 14 Uhr. Wenn die Schüler jährlich nach dem Examen auf den Berg (Schießberg) geführt werden (Kinderfest) oder zur Herbstzeit im Wald Stecken, Ruten oder Wacholderstauden holen, haben Präzeptor und Provisor sie zu begleiten.“ Erstaunlich ist der abschließende Hinweis, daß beide Schulmeister „die Schüler während der regulären Schulstunden nicht zur Verrichtung ihrer eigenen häuslichen Arbeiten heranziehen [sollen].“
1761 folgte „die Verordnung über die Mädchenschule [welche u.a.] die Dauer des Unterrichts [regelte]: 8 bis 10 Uhr vormittags und 12 bis 3 Uhr nachmittags (Donnerstagnachmittag frei). Die Anweisung für den Lehrer ist ein deutlicher Hinweis für den Einzug der Ideen der Aufklärung in der Reichsstadt Giengen: Im Lehren ist diese Haupt-Regel bis hero fürnemlich wol in acht zu nehmen …: dass man mit denen Kindern sänftiglich verfahre, sie freundlich erinnere, wo sie in etwas fehlen, und so sie im Lernen und Thun lobenswürdig sie auch lobe, nicht aber mit Strenge oder Schlägen sie zum Lernen und zu den Sitten obligire. Ursach: Die Würkung davon kan man, wo eine Schule etablirt ist, von weitem oder im vorbeygehen hören und sehen. Wann ein solcher wilder Mensch sich darinnen aufhält, ist nichts als schreyen, tumultuiren, heulen und mehr ein Marter- als ein Spiel-Leben wordurch die Jugend entweder heftig von einem Schrecken in den andern gesezt und also der Appetit zum Lernen völlig benommen wird, oder die nemlichen Besinnungen und schöne Manieren ihres Anführens annimmt, da mancher ehrl. oder honette Mann einem solchen nicht einmal ein unvernünftiges Thier, vielweniger sein Kind, welches er über alles liebet, zum Unterricht und Erziehung anzuvertrauen, ein solches Bedenken tragen würde. Qualis rex, talis grex [wörtlich: wie der König, so die Herde – oder auch: Wie der Herr, so’s G’scherr].“
Für die Einschulung wurde auch im 15. Jahrhundert schon ein Alter von sechs Jahren empfohlen. Was den Schulbeginn anbelangt, so orientierte man sich – wie im Mittelalter üblich – an kirchlichen Feiertagen und Heiligenfesten. Wie in anderen Fällen auch, gaben die Festtage bedeutender Heiliger einen festen Termin vor; im Fall der Schüler und Studenten war es Papst Gregor der Große (590-604), der als Schutzpatron fungierte. „Traditionsgemäß war der erste Schultag in der Fastenzeit am Tage des heiligen Gregor (12. März), und die Kinder erhielten Bretzeln, Feigen, Rosinen und Mandeln. […] Das änderte sich mit dem Ende der Fastenzeit, denn dies bedeutete gleichzeitig auch das Ende der Leckereien. Deren Stellung nahmen nun Rutenschläge ein.“ Denn nachlassender Lerneifer wurde mit Schlägen „honoriert“, Kinder lernten damals wohl vor allem aus Angst vor der Rute.
Mit welch inakzeptablen Methoden Schüler damals zum Lernen angehalten wurden, das zeigen einige zeitgenössische Bildquellen, etwa im „Mittelalterlichen Hausbuch“ von 1480. Dort sieht man einen Lehrer, der einen seiner Schüler inmitten der gesamten Kinderschar über das Knie gelegt hat und mit einer Rute auf dessen entblößte Kehrseite einschlägt. Das Gesicht des bestraften Kindes ist schmerzverzerrt, während die anderen Schüler intensiv mit ihren Aufgaben befaßt sind – sorgsam darauf bedacht, nicht gleichfalls den Unmut des Lehrers auf sich zu ziehen.
„Es wurde […] viel gestraft in den Schulen des ausgehenden Mittelalters. Wer von den Schülern unpünktlich zur Schule kam, wer ohne triftigen Grund fehlte, wer durch ‚unschickliche Haltung‘,
‚unhöfisches Gebaren‘ oder schlechte Sitten auffiel, wer den zu lernenden Stoff nicht beherrschte, wer im Chor falsch sang, wer beim Kirchgang gegen die herrschenden Sitten und Gewohnheiten verstieß, wer außerhalb der Schulstunden ‚ungebührliches Treiben‘ an den Tag legte oder wer in einer Lateinschule Deutsch redete, mußte mit einer Bestrafung rechnen.“
In Giengen hatte der deutsche Schulmeister laut einer Notiz von 1566 darauf zu achten, „dass die größeren Schüler morgens pünktlich um 6 Uhr (!) in die Schule kommen und ‚wann einer nitkäm, demselben ein gut product abzuhaue'“, und im 18. Jahrhundert wurde den Schulkindern das Schlittenfahren auf den Straßen streng verboten, sowie vor Weihnachten „zum wiederholten Mal […] das ‚Klopfenan‘ verboten. Bei Übertretung des Verbots wird für Ältere Gefängnisstrafe im Turm, für Schüler Züchtigung in der Schule angeordnet.“
„Die Strafe wurde gewöhnlich mit der Rute verabreicht. In den Schulordnungen finden sich wiederholt Ermahnungen an die Lehrer, die Kinder nicht mehr als notwendig zu züchtigen.“ In bildlichen und literarischen Dokumenten, die das Schülerleben betreffen, fehlt daher selten dieses Instrument der Züchtigung. Die Rute wurde schließlich sogar zum Standessymbol des Lehrers und „er hat sie oft schon erhoben, wenn Kinder ihm an ersten Schultag zugeführt werden.“
Insofern ist es fast wieder tröstlich, daß auch die Schulmeister nicht vor Strafe gefeit waren. Als
„Scholasticus“ dem geistlichen Stand angehörend und zunächst grundsätzlichen Respekt genießend mußten sie bei Kritik mit Sanktionen bis hin zu ihrer Entlassung rechnen.
In einem Holzschnitt von 1479, der die „Beschreibung der Anforderung an die Tätigkeit des Schulmeisters“ enthält, heißt es im Begleittext, daß „ein Schulmeister […] neben dem Unterricht im Schreiben gute Sitten zu lehren [habe], worin er selbst den Schülern ein Vorbild sein soll.“ Eine Anforderung, die von den in Giengen tätigen Lehrern wohl nicht immer beherzigt worden ist, denn der Stadtschreiber notierte 1554, daß „dem neu angenommenen deutschen Schulmeister Traber […] in der Nacht durch den alten Schulmeister Pösserer die Fenster eingeworfen [worden sind].“ – Obwohl, vielleicht war der alte Schulmeister erst und gerade durch diese Tat zum Vorbild für seine Schüler geworden?
Gewöhnlich gaben die Schulmeister aufgrund ihrer Herkunft aus einer Dom- oder Stiftsschule das, was sie dort an Bildung in Sachen Rhetorik und Schriftauslegung erworben hatten – oder für Bildung gehalten hatten – ungefiltert an die Schüler weiter. Das reichte nicht immer und gefiel nicht jedem. „Zu beklagen sei […], daß nur wenige der im Schuldienst Tätigen mit ‚rechter weysheyt‘ begnadet sind: obwohl sie den Titel eines Doktors oder Meisters führen, verrichten sie nur Stümperwerk.“ Noch deutlicher wurden einige Holzschneider Anfang des 16. Jahrhunderts, die in ihren Bildern dem Lehrer ganz unverblümt eine Narrenkappe mit Eselsohren aufsetzten oder ihn vollständig in einen Esel verwandelten. Damit griffen sie – wie man aus Schulordnungen weiß – eine damals weit verbreitete Praxis auf. Da der Esel im ausgehenden Mittelalter das Symbol für Unverstand und Faulheit war, wurde „dem jeweils faulsten oder unwissendsten Schüler oft die Narrenkappe mit den Eselsohren oder sogar eine ganze Eselskopfnachbildung aufgesetzt. Für alle sichtbar zum ‚asinus‘ gemacht, hatte der betreffende Schüler solange das Zeichen zu tragen, bis ein anderer Mitschüler die Stelle des ‚ultimus‘ erhielt.“ Und die Schüler litten unzweifelhaft unter dieser Demütigung, wie man den weinenden Gesichtern in zeitgenössischen Abbildungen entnehmen kann.
Um so mehr muß den damaligen Schülern die Schulvisitation als herausragender Festtag, als Höhepunkt im Schuljahr vorgekommen sein. Obwohl bei der Visitation mit dem Lehrer, Pfarrer und Bürgermeister zunächst die Autoritäten im Mittelpunkt standen und die Kinder sicher mit einer Mischung von Aufregung und Angst vor den Examina zu kämpfen hatten, doch spätestens bei dem Festzug, den Wettspielen und den Preisgeldern dürfte dies vergessen gewesen sein.
Nachdem die historische Wurzel des Giengener Kinderfestes in der Schulvisitation erkannt und beschrieben worden ist, dürften die in den Schriftquellen Langezeit und immer wieder wechselnden Bezeichnungen zweitrangig geworden sein. Oder um es salopp auszudrücken: das Kindlein hat eben einfach mehrere Namen, was wiederum für eine besonders alte und stolze Tradition spricht, sowie für eine besonders tiefe Verankerung des Brauchtums.
Wenn in den Quellen von einem „Bergfest“ die Rede ist, dann war für den Schreiber der Ort des Geschehens wichtig und namensgebend. Ähnliche Formulierungen lauteten: „auf den Berg geholt“ oder
„Führung auf den Berg“.
Mit dem „Berg“ ist Giengens Hausberg gemeint, der nachweislich vor 1500 als „Schulerperg“ und seit dem 17. Jahrhundert als „Schießberg“ bezeichnet wird. Den bis heute gebräuchlichen Namen hat er von der ehemaligen, bis 1808 dort befindlichen Schießstätte. Lange vor dieser Nutzung wurde dieser Berg – eben wegen des dort abgehaltenen Kinderfestes – auch „Kinder- oder Schülerberg“ genannt.
Tatsächlich ist ein solcher Berg als Festplatz durchaus bemerkenswert, ebenso wie die dortige Festwiese -ein Untergrund, der diese Bezeichnung bis heute tatsächlich auch verdient – und die prächtige Baumallee.
In einem Text des Heidenheimer Oberbürgermeisters Eugen Jäkle (1870-1936) heißt es: „Kinderfeste werden allenthalben gefeiert. Aber selten sind sie für alt und jung von der Bedeutung wie in der Heidenheimer Gegend. Selten stehen auch dafür so schöne Festplätze zur Verfügung wie etwa in Giengen der Schießberg […]. Er ist der Stolz der Giengener. Auf ihm steht ein massiger Aussichtsturm, von dessen Höhe aus man eine schöne Fernsicht genießt, besonders hinunter zur Donauniederung; auf ihm ergehen sich die alten Bürger oder ruhen auf einer sonnigen Bank aus von den Mühen und der Arbeit des Lebens. Am Pfingst-Dienstag aber hält hier die Jugend ihr Fest, das für das ganze untere Brenztal ein Freudentag ist. Wer’s richten kann, kommt schon morgens zum Aufmarsch, an den sich der Festzug der Kinder durch die Stadt zur Höhe des Schießbergs anschließt, auf den anmutigen, mit Linden bepflanzten Festplatz. Ein bändergeschmücktes Birkenbäumchen tragen einzelne Schulklassen voraus, und es ist der besondere Stolz der Mütter und Großmütter, wenn noch da und dort ein altes Band flattert, mit dem ihre eigenen Kindheitserinnerungen verknüpft sind. Droben im Schatten der alten Bäume lassen die Lehrer ihre Schüler spielen und springen und zeichnen die besten mit einfachen Preisen, Heften und allerlei Nützlichem aus; aber sie haben beim Austeilen ein weites Herz für all die frohen Kinder. Deren Augen leuchten; es ist doch heute ihr Festtag. All die Töne der Drehorgeln und Karusells klingen für sie; auch Tanz und Reigen gehören ihnen und zuletzt noch der Ehrentanz im abgesteckten Kreise dicht bei der Musik, wo die Erwachsenen hinter den einfachen Holztischen bei einem Glas ‚Schlüsselbier‘ und ‚Schwanenbier‘ sitzen …. Ein eigenes Bild harmloser Fröhlichkeit und bescheidenen Älblerglücks …“
Die sich seit dem 18. Jahrhundert abzeichnende Bezeichnung „Kinderfest“ benennt – ebenso wie der zwischendurch auch mal gebrauchte Begriff „Schülerfest“ – die Hauptakteure des Festes und setzt das Fest damit schlicht besser ab von anderen fröhlichen Zusammenkünften, wie etwa Turnfeste oder Sängerwettstreite, die etwas später in Mode kamen. Gleichzeitig entspricht diese Bezeichnung einer allgemein-gesellschaftlichen Aufwertung des Kindes im Zeitalter der Aufklärung.
Die gleichfalls vorkommende Bezeichnung „Mayenfest“ oder „Mayentag“ nahm den Festschmuck und den Zeitpunkt des Festes im Frühjahr als entscheidendes Kriterium, zeigt aber gleichzeitig, daß das Kinderfest nicht immer zwingend mit Pfingsten konnotiert war. Womit abschließend noch ein paar Worte zum Termin verloren werden müssen.
In den ersten Quellen aus der Mitte des 16. Jahrhunderts geht es um die Termine der Visitation, 1560 sollte sie im Februar, ab 1566 künftig zweimal im Jahr – zu Ostern und am 29. September – vorgenommen werden. Auch 1659 war sie noch nicht mit Pfingsten verbunden, denn die Visitation fand am 11. Mai statt – und in jenem Jahr fiel Ostern auf den 3. April und Pfingsten auf den 22. Mai. Damals gab es also weder einen bestimmten Termin im Jahr, noch war ein fester Wochentag ausgedeutet worden oder die Dauer des Festes festgelegt.
Erst „auf eine auf den Stadtpfarrer Johann Schnapper und den Prediger Simon Böckh (II.) zurückgehende Anfrage wegen der Schulvisitation beschloß der Rat der Stadt am 26. Mai 1691, ‚daß nächst künftig Pfingst-Dienstag hierzu nach Gutdünken der H[erren] Geistlichen employiert [=angewendet] werden könne‘. Die Bedeutung dieses Eintrags liegt darin, daß hier erstmals der Pfingstdienstag als Festtag ausdrücklich erwähnt ist. Damit war der erste nachweisbare Grundstein für die Pfingstdienstag-Tradition in Giengen gelegt, wenn dieser Beschluß zunächst auch nur für dieses eine Jahr galt. Die Geistlichkeit stellte jährlich dieselbe
‚Anfrage‘, der ebenso entsprochen wurde.“
Noch 1994 war es für Usler „nicht mehr rekonstruierbar“, „was die Geistlichen letztendlich dazu bewogen haben mag, diesen festen Termin zu wählen“. Als Historiker wagte er in diesem Zusammenhang maximal die vorsichtige Vermutung, daß „mit dieser Festlegung auch ein Bedeutungszuwachs der Schulvisitation einher [ging].“ An anderer Stelle hat er aufgrund wiederholter Reglementierungen durch den Stadtrat das Kinderfest als Kompensation für einen im Protestantismus abgeschafften Fasnachtsbrauch für möglich erachtet: „Ob dies zum Teil auch auf den durch die Reformation bedingten Verlust der Fastnachtstradition zurückzuführen ist, die einen gewissen, befristeten Ausgleich zum sonst streng reglementierten Alltagsleben bildete, muß dahingestellt bleiben.“
Wenn die Schriftquellen schweigen oder nicht weiterhelfen, ist es angebracht, über die geschriebenen Quellen hinaus zu gehen und weitere Indizien heranzuführen, etwa indem man vor Ort befindliche Bildquellen sucht und diese dann unter kunsthistorischen Aspekten betrachtet sowie die theologische Debatte bzw. kirchengeschichtliche Entwicklung im ausgehenden 17. Jahrhundert berücksichtigt. Eine solche Untersuchung ist, wie man sich gut vorstellen kann, sehr komplex und würde an dieser Stelle hier leider viel zu weit führen, dennoch sei der begründete Verdacht geäußert, daß dabei mehr als eine Antwort zu finden ist.
Immerhin sei hier aber noch in aller Kürze – und zur Anregung einer qualifizierten Diskussion – auf die beiden damaligen Schlüsselfiguren Pfarrer Johann Schapper und Prediger Simon Böckh (II.) hingewiesen, die sich wohl nicht nur besonders vehement für die Sache der Reformation eingesetzt haben, sondern auch ganz konkret in das Bildprogramm und den Aufstellungsort des Hochaltars der Stadtkirche eingemischt haben. Diese beiden Theologen scheinen also besonders großen Wert auf symbolträchtige, programmatische Handlungen gelegt zu haben. Insofern wäre es dann nur folgerichtig, daß und wenn sie den Festtermin des prestigeträchtigen Kinderfestes erstmals auf einen stets gleichbleibenden Termin im Jahr gelegt hätten. Mit Pfingsten war zudem ein Fest gewählt worden, das Melanchton in seinem
„Unterricht der Visitatoren“ von 1528 in den lutherischen Festkanon übernommen hatte.
Doch Pfingsten ist ohnehin theologisch und kirchenpolitisch als ein hochspannendes Fest zu bewerten. Unmittelbar den Beginn der Gemeindegründungen terminierend gilt dieser Moment als „Geburtstermin“ der Institution „Kirche“. Das alleine macht dieses Fest schon besonders. Doch in kirchenpolitisch
„wackligen“ Zeiten wie während der Gegenreformation hat die Diskussion um die wahre Gemeinde Christi gewiß nochmals Fahrt aufgenommen und an Bedeutung gewonnen. Man wird den Eindruck nicht los, als wäre das Pfingstfest von einigen Protestanten gegen Ende des 17. Jahrhunderts in dieser Bedeutung erkannt und als Zeichen bzw. Mittel einer Art Gegen-Gegenreformation benutzt worden.
Und zur Fasnachts-These nur folgende Bemerkung: Der opportunistische, zuweilen merkwürdig reglementiert anarchische Fasnachtstrubel hat einen grundsätzlich anderen Charakter als die feierlichen Pfingsttage. In einem kleinen, der Fastenzeit vorgeschalteten Zeitfenster war (und ist) es den Gläubigen einmal im Jahr erlaubt, über die Stränge zu schlagen. Dabei galt (und gilt) es sich einerseits für die kommende Fastenzeit vor Ostern mit besonders fetthaltigen Lebensmitteln zu mästen. Da allerdings die vorösterliche Fastenzeit während der Reformation theologisch in Frage gestellt worden war, spielte das Fasnachtsbrauchtum in den protestantischen Gegenden bald kaum noch eine Rolle.
Andererseits können die an Fasnacht verkleideten Menschen einmal im Jahr all ihrem Ärger Luft verschaffen bzw. der Obrigkeit ungestraft die Meinung geigen. Aber auch diese soziologisch wichtige Funktion, die man als relativ kontrollierten Abbau all jener Emotionen bezeichnen könnte, die sich durch strenge Subordination aufstauen, war durch Luthers ganz offen ausgetragene, mitunter sehr derbe Papstkritik weggefallen – und in Reichsstädten wie Giengen durch Selbstverwaltung und Reichsunmittelbarkeit wohl ohnehin nur schwach ausgeprägt.
Insofern wundert es nicht, daß in Giengen bereits aus der Mitte des 16. Jahrhunderts – also zeitlich parallel zur Einführung der Reformation in der Stadt – ein Verbot des Magistrats für Fasnachtsumzüge datiert. Mit dem Verbot von „Saitenspiel, Trommeln, Pfeifen, Geigen, Fahnentragen und Tanzen“ sollte am 22. Februar 1565 „Unzucht und anderes Unwesen“ künftig verhütet werden. Ähnliche Verordnungen finden sich in den folgenden Jahrhunderten immer wieder, erst 1884 wurde zur Fasnachtszeit ein Umzug vom örtlichen Turnverein veranstaltet – und heute ist durch einen grundlegenden Wandel in der Bevölkerungsstruktur ohnehin eine ganz andere Situation gegeben.
Schaut man in die Akten, dann stand selbst in einer protestantischen Hochburg wie Giengen das fröhlich bunte Treiben beim Kinderfest nie zur Disposition, ganz im Gegenteil! Hin und wieder störten sich manche Verantwortliche an vereinzelten Maßlosigkeiten, doch insgesamt war man stets stolz auf die ausgelassenen Feiern des Nachwuchses mit seinen Familien nach den bestandenen Prüfungen und freute sich „auf dem Berg“ an Gottes schöner Natur.
Ein Reflex dieser stolzen Freude der Erwachsenen über den Nachwuchs und seine fröhliche Ausgelassenheit während des Giengener Kinderfestes findet man noch in den ersten Berichten im
„Brenzthal-Bote[n]“ aus der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts. 1879 ist dort etwa ist von „Spiellust der Kinder“ , von „viel Vergnügen und Unterhaltung“, der Befriedigung mannigfaltiger „Ansprüche und Bedürfnisse für Jung und Alt“ die Rede. Wenig später schrieb ein Journalist: „Heute wird das weit und breit rühmlich bekannte Kinderfest abgehalten. Böllersalven und Trommelklang kündigten früh 6 Uhr den Festtag an, die Stadt ist mit Maien und Fahnen schön geschmückt und Tausende fremder Gäste strömen herbei, um an unserem schönen Feste theilzunehmen. – Das Wetter, das über die Pfingstfeiertage prachtvoll war, so daß Alt und Jung ausflog, um sich in Feld und Wald an der herrlichen, üppigen Natur zu erfreuen und zu erquicken, scheint unserem Feste günstig bleiben zu wollen, was wir den lieben Kleinen, die sich ja schon seit Wochen auf ihr Fest so sehr gefreut, von Herzen wünschen.“
Und 1880 war man im Nachhinein beruhigt, daß die schlechte Witterung der guten Stimmung der Kinder keinen Abbruch getan hat: „Unser Kinderfest konnte am letzten Dienstag und Mittwoch ganz dem in Nr. 39 d. Bl. veröffentlichten Programme gemäß angehalten werden. Das Wetter war zwar, besonders am zweiten Festtage, nicht nach Wunsch, denn ein frostiger Nordostwind machte den Aufenthalt auf dem Festplatze recht ungemüthlich; aber der Freude unserer l[ieben] Kleinen that es keinen Abbruch, sie erwärmten sich beim Spiel und Tanz zur Genüge. – In der Nacht vom Mittwoch auf Donnerstag sank das Thermomenter auf 1-2 Grad unter Null, so daß gegen Morgen stehendes Wasser eine Eisdecke hatte und der Schaden an Obstbäumen und Gartengewächsen recht erheblich ist. Die Erwartung, da auf den außerordentlich strengen Winter ein um so wärmeres Frühjahr folgen werde, hat sich bereits als trügerisch erwiesen. (Wir gehen eben scheints doch, wie ängstliche Gemüther versichern, mit Riesenschritten der ‚Eisperiode‘ entgegen, werden Europa verlassen und uns dem Südpol nähern müssen!)“
Wie ernst der Stadtrat das Kinderfest schon Ende des 17. Jahrhunderts genommen hat, belegt der Zusatz: „Drei Tage, nachdem der Rat den Pfingstdienstag festgesetzt hatte, verzichtete er auf eine Sitzung am selben Tag. Auch in der Folgezeit ließ der Rat die in der Ratsordnung auf Dienstag festgelegten Sitzungen an den Tagen der Schulvisitation ausfallen.“ Offen bleibt die Frage, ob die Ratsherren damit dem Fest und seinen kleinen Akteuren eine besondere Ehrerweisung zuteil werden lassen wollten oder ob sie nicht schlicht ein besonders geselliges Beisammensein auf dem Berg nicht verpassen wollten. Aufgrund so manch ungewöhnlichen aber höchst pragmatischen Entscheidung ist in Giengen die Antwort wohl irgendwo in der Mitte zu finden: Denn wenn die Herren Ratsdeputierten per Beschluß seit mindestens 1650 schon jeden Dienstag tagen mußten und unter Strafandrohung keiner Sitzung fernbleiben durften, dann ließ sich anläßlich des Kinderfestes vielleicht das Nützliche mit dem Angenehmen verbinden – also auf dem Berg quasi eine informelle Ratssitzung gleich coram publico abhalten, noch dazu auf eigene Kosten, also – wie man es vielleicht heute formulieren würde – ganz bürgernah, transparent und das Stadtsäckel schonend.